Dienstag, 25. Februar 2014

Nicht sehen oder nicht hören

Wenn ich jetzt einen Unfall hätte, bei dem ich entweder mein Augenlicht oder meine Hörfähigkeit verlieren würde - was wäre schlimmer: Nicht mehr sehen oder nicht mehr hören?

Nicht mehr sehen können, würde bedeuten, dass mein Leben alle Farbe verliert - kein rot, kein grün, kein blau, kein gelb, nur grau und schwarz, hell und dunkel. Ich könnte nicht sehen, wer mich anschaut, wer mich nicht anschaut, wer mich anlächelt oder mir die Zunge rausstreckt. In den Zug einsteigen, aus dem Zug aussteigen, das richtige Gleis finden, von A nach B finden, dies wäre nicht ohne Hilfe möglich, sei es durch einen Blindenstock oder durch einen anderen Menschen. Ich könnte nicht sehen, wie mein Neffe und meine Nichte aussehen, wenn sie erwachsen sind, wie sie tanzen, welche Frisuren sie haben werden, Bilder die sie für mich malen, Briefe die sie mir schreiben. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, den Frühling, der wieder Farbe bringt, die Bäume vor meinem Fenster, die Schiffe im Hafen, die Hand vor meinem Gesicht - all das werde ich nicht sehen können, nur hören, riechen, fühlen oder schmecken.

Nicht mehr hören können, würde bedeuten, dass alles auf Mute gestellt wäre. Ich könnte nicht hören, wenn mich einer von der Seite anspricht, nicht mehr hören wenn mein Telefon klingelt, die Stimmen meiner Familie, meiner Freunde oder die meiner Nachbarn, die sich streiten. Es gäbe keine Musik, zu der ich mich bewegen kann, keine tickende Uhr, kein Lachen, kein Weinen dringt in mein Ohr. Ich kann das Wasser nicht plätschern hören, das Meer nicht rauschen, den Wind nicht pfeifen, die Blätter nicht rascheln. Klackernde Absätze, quietschende Reifen, muhende Kühe, ratternde Züge, murmelnde Menschen - alles futsch. Es wäre sehr still um mich herum.

Für mich wäre nicht mehr sehen zu können, wohl schlimmer, als nicht mehr zu hören. Aber wie man es nimmt, es würde mir sehr viel fehlen, um ein vollständiges Bild von meiner Welt zu bekommen. Wie sagte noch der Philosoph Locke: "Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu" - "Nichts ist im Geiste, was nicht vorher in den Sinnen war." Um eine volle Erkenntnis zu bekommen, muss man Etwas mit allen Sinnen wahrgenommen haben. Ich weiß zwar wie grün aussieht, aber ich habe noch nie das Grün des Regenwaldes live gesehen oder die Geräusche gehört, die dieser Wald von sich gibt. Ich war noch nie an den Niagarafällen, habe noch nie dort das Wasser fallen sehen, noch nie das Tosen gehört und mir würde einfach der Sinn fehlen, dies alles in seiner Gänze wahrzunehmen. 

Auch wenn ich blind oder taub wäre, könnte ich viel erleben, viel erreichen - das Leben funktioniert, aber für mich wäre es nicht komplett.

Freitag, 14. Februar 2014

Die Taucherbrille im Bus

Ich stehe im Bus. Er ist voll besetzt und wir teilen uns zu dritt eine Stange, damit wir nicht wie Murmeln durch den Wagen kullern. Genau vor meiner Nase ist ein Arm. Er gehört einem Mann, der neben mir steht und sich an der Glastrennscheibe des Eingangsbereichs festhält. Mit seiner anderen Hand hält er sein Fahrrad. Er trägt eine Taucherbrille, eine große Zyklopentaucherbrille. Ich schau aus dem Fenster, es ist trocken, kein Schnee, kein Regen, ja sogar keine Wolken. Wenn es geregnet hätte, hätte ich die Taucherbrille vielleicht noch verstanden - aber so?!

Ich schau ihn an, er schaut mich an. Kurz überlege ich, ob ich ihn frage, warum er eine Taucherbrille trägt, im Bus, bei Sonnenschein, kilometerweit entfernt von einem See, Fluss, Meer oder Schwimmbad. Dann schaue ich weg. Will ich die Antwort überhaupt wissen? Will ich überhaupt mit ihm reden? Was ist wenn er voll der Freak ist? Vielleicht antwortet er ja, dass dies Brille ihn abschirmt vor Außerirdischen, denn das Glas besteht aus einer speziellen Schicht, die seine Augen vor Gammastrahlen schützt. Die ETs greifen nämlich zuerst die Augen an, brennen uns Chips auf die Netzhaut, die unsere Augen täuschen. Wir sehen nicht mehr, wie unsere Welt wirklich aussieht, nur die Bilder, die uns über den Chip gesendet werden. Vielleicht antwortet er ja auch, dass sie ihn vor den Bakterien schützt, die fiesen, die durch die Schleimhäute direkt in den Kreislauf geraten - innerhalb weniger Sekunden und uns dann krank machen. Vielleicht sagt er auch in einer gruseligen Stimme: "Damit ich dich besser sehen kann!". Vielleicht starrt er mich dann die ganze Busfahrt an, steigt mit mir aus und fährt mir ganz langsam und quietschend auf seinem Rad hinterher. Wenn ich anfange zu laufen, wird auch das Quietschen schneller, bis ich zuhause bin. Und wenn ich dann im Bett liege, höre ich ihn vor meinem Fenster hin und her fahren: "Quietsch, Quietsch, Quietsch!"

Als kleines Mädchen hätte ich mich diese Dinge nicht gefragt. Als kleines Mädchen hätte ich nicht im letzten Moment Angst bekommen, der Typ könnte ein verrückter Freak sein, weil er eine Taucherbrille an Land trägt. Ich hätte ihn gefragt, ich wäre noch so naiv gewesen - aber ist dies wirklich Naivität? Als kleines Kind war man eben noch viel wertfreier, ohne Vorurteil. Ich hatte eine schwarze Puppe und habe mir darüber keine Gedanken gemacht, ich hatte Freunde, die unaussprechliche Namen hatten und nicht gefragt, wo sie herkommen. Kauzige Menschen fand ich interessant und einen Menschen mit einer Taucherbrille hätte ich ganz einfach gefragt, warum er eine solche trägt. Vielleicht hätte er ja auch geantwortet, dass er sich heute Morgen auf seine Brille gesetzt hat und ohne ist er fast blind. Kontaktlinsen hat er nicht und das einzige was ihm als Sehhilfe dient ist eben diese Taucherbrille, denn die hat geschliffene Gläser.