Donnerstag, 7. März 2013

Der Prophet im Taxi

"Wir müssen das erste Taxi nehmen, ne?" "Jep!" Wir gingen weiter, vorbei an den Taxen die brav auf ihre nächste Tour betrunkener Kiezgänger warteten. "Das hier?" fragte K. Ich schaute rein und musste schmunzeln: "Wir fahren mit Mister Miyagi!" Meine Freundin drehte sich um und schmunzelte ebenfalls: "Cool!" Wir stiegen ein, sie hinten ich vorne. "Erstmal nach Bi. und dann nach Ba. bitte." Wir fuhren los.

Meine Freundin und ich unterhielten uns über belanglose Sachen: "M. fährt in die USA, sie macht 'ne Art Rundreise. Ich treffe mich morgen mit ihr, damit ich ihr noch 'ne Liste geben kann. Vielleicht schafft sie es ja mir etwas davon mitzubringen." "Ah ja?! Sag ihr mal, sie soll die Preisschilder und so ab machen...wegen dem Zoll..." Nach einer Viertelstunde kamen wir in Bi. an und meine Freundin stieg aus. Nun saß ich mit Mister Miyagie alleine im Taxi. Ich hoffte nur, er würde mich nicht vollquatschen, ich hatte keine Lust auf Smalltalk und bin ohnehin schlecht für diesen geeignet, besonders um 3:00 Uhr in der Frühe. "Soll ich über J. fahren?" Er sprach schlecht deutsch, doch trotzdem verständlich. "Ja, das ist genau richtig, ist der beste Weg!"

Dies musste ihn wohl auf eine Idee gebracht haben...denn plötzlich, ohne das ich es kommen sah, befand ich mich mit ihm in einer Diskussion über "Richtig" und "Falsch“. "Woher weiß man, was richtig oder falsch ist? Wer bestimmt das? Wir in Asien zum Beispiel...wir sehen Hitler anders als hier in Europa. Was er getan hat war böse, aber wegen des 2. Weltkrieges waren England und Frankreich geschwächt. Sie konnten sich nicht mehr um ihre Kolonien kümmern und wir konnten unsere Unabhängigkeit erlangen. Wir sehen ihn deshalb anders. Nietzsche sagt..." Sagte er grad Nietzsche? Oder hab ich ihn aufgrund seines Akzentes etwas falsch verstanden? "...Sie kennen doch Nietzsche?"

Er hatte es doch gesagt. Ich war beeindruckt, doch gleichzeitig schämte ich mich etwas, für mein Vorurteil. Wer hätte gedacht, das ein indonesischer Taxifahrer Nietzsche, Camus, Sartre und dergleichen ließt? "Ja, den kenne ich." "Ja... Nietzsche sagte, es kommt nicht aufs richtig oder falsch an. Man muss die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Hitler hat das getan." "Ja, das hat er durchaus!" "Kann man sagen, dass das was er getan hat falsch war, wenn mehrere 100.000 Menschen befreit wurden? Es starben tausende Menschen, doch gleichzeitig bekamen wir ein neues Leben in Unabhängigkeit!" Das war eine sehr schwierige Frage. Wir fuhren in meine Straße ein und es sah so aus, als ob dies keine rhetorische Frage war...ich musste also was sagen.

"Nun, jede Medaille hat zwei Seiten...es ist wie...Ich studiere Jura und wir diskutieren auch ständig über solche Fragen. Zum Beispiel wenn es darum geht, ob ein entführtes Flugzeug abgeschossen werden darf, damit es nicht in ein Gebäude stürzt. Ein Leben ist genau soviel wert, wie Hundert Leben. Darf man also ein Flugzeug mit 100 Unschuldigen Passagieren abschießen, um Tausende Unschuldige zu schützen?" - Geschickt abgelenkt vom heiklen Thema! Wir standen nun in meiner Straße. Ich schielte aufs Taxameter: 29, 30 €. Er hatte es nun ausgeschaltet, aber der Motor lief noch. Er redete weiter.

Die Frage nach demjenigen, der über die Menschheit richten darf, führte automatisch zum Thema Religion. "Wir in Indonesien gehen ganz anders mit Gott um, wie hier in Deutschland. Wenn etwas Schlimmes passiert, eine Naturkatastrophe...dann heißt es: Wir wurden bestraft, das war Gottes Wille, seine Rache. Hier sagt man, dass liegt an der Klimakatastrophe oder an etwas anderem." Er hatte den Motor inzwischen ausgestellt. Ich machte jedoch keine anstalten, aus dem Taxi auszusteigen, war ich doch zu sehr daran interessiert, was er noch zu sagen hatte. Dies freute ihn offensichtlich und er begann immer mehr zu reden und schien nun geistig auf Hochtouren zu laufen. Es war sehr interessant mit anzusehen.
"Gott ist tot!" Ich glaube er war ein kleiner Nietzsche Fan. "Nietzsche sagt das. Was meinen Sie? War er gläubig oder nichtgläubug?" "Ja, das ist die Frage. Allerdings glaube ich, dass er sehr gläubig war."
Diese Antwort schien ihn zu freuen. "Ja, das glaube ich auch. Was er meint ist, dass der Gott tot ist, den die verschiedenen Religionen geschaffen haben, den kommerzialisierten Gott. Die ganzen verschiedenen Religionen haben ihre Schriften, ihre verschiedenen Symbole. Doch jeder Gott ist am Ende der Selbe. Sehen sie...ich bin Moslem und meine Frau ist katholisch, aber das ist egal. Wir glauben trotzdem." "Das sage ich auch immer, es kommt nicht darauf an, welche Religion die Richtige ist, dass was zählt ist der Glaube. Selbst der Atheist glaubt an etwas und wenn es das ist, dass dort oben niemand ist." "Ich hab einmal einen Atheisten gefahren, ich hab ihn gefragt woran er glaubt, ob er glaubt. Er sagte er glaubt, dass man nach dem Tod woanders hingeht. Ich sagte zu ihm: siehst du...du glaubst ja doch. Er konnte darauf nichts antworten. Der Mensch braucht einen Glauben, dabei spielt es keine Rolle an was man glaubt. Das braucht die Seele."
Er dachte kurz nach. "Wissen Sie, was Antimaterie ist? Was glauben Sie ist Antimaterie?" "Nun, für mich ist Antimaterie "Nichts", körperlos. Es kann keine Antimaterie geben, wo es einen Körper gibt...oder Materie an sich." "Antimaterie ist Raum und Zeitlos...es kann Antimaterie geben. Es gibt sie. Die Seele ist Antimaterie. Wenn man schläft, dann gibt es in den Träumen keine Zeit oder einen richtigen Raum. Man hat manchmal das Gefühl eine Ewigkeit zu träumen, dabei sind es nur Sekunden gewesen. Das ist Antimaterie."

Mister Miyagi erzählte von Camus und Sartre, vom Universum und wie klein der Mensch doch ist, wie unbedeutend. Ich erzählte von Roland, dem letzten Revolverhelden auf der Jagd nach dem Mann in Schwarz. "...als Roland auf den Mann in Schwarz trifft, halten sie ein Palaver. Der Mann in Schwarz lässt Roland in eine Glaskugel gucken. Diese zieht ihn in einen Bann, zieht in durch die Atmosphäre, durch unsere Galaxie, in eine noch größere Galaxie, durchs Universum und schlussendlich kommt er aus einem purpurnem Grashalm heraus. Das bedeutet wir, also unsere Galaxie, unser Universum ist nichts weiter als ein Atom in einem purpurnen Grashalm, in einer noch größeren Welt als unsere. Wenn ich also hier auf einen Grashalm trete, zerstöre ich Welten. Vielleicht hat das gerade jemand mit unserem Grashalm getan, deshalb fängt unsere Erde an zu zerfallen." Er nickte.
"Ja...wir sind sehr klein. Rauchen Sie?" Er bot mir eine Zigarette an, die ich dankend entgegen nahm.
"Wissen sie...ich finde, eine Galaxie kann auch sehr klein sein. Ich sag immer, meine Familie und ich...Wir sind auch eine Galaxie. Ich bin die Sonne, meine Frau der Mond und meine Kinder sind die Planeten. Ich muss strahlen, mein Licht an den Mond und die Planeten weitergeben. Die magnetische Anziehungskraft hält alle zusammen. Sie Kreisen in ihren Umlaufbahnen um die Sonne herum und so verliert man sich nicht." Das war eine wunderbare Vorstellung einer Familie. "Das ist eine wunderbare Vorstellung einer Familie!" Er nickt wieder.

"Ich fahre seit vierzig Jahren Taxi. Damit ernähre ich meine Familie. Ich hab nie studiert, alles habe ich mir selber beigebracht. Ich habe mein Taxi, die Menschen, die Bücher. Das hier ist mein Uni. Hierdurch sehe ich die Welt." Er zeigte auf die Windschutzscheibe. "Jeder spielt eine Rolle im Leben. Man muss sie nur spielen können." Seine Rolle sei es in seinem Taxi zu fahren, dabei möglichst vielen Menschen die Welt aus seiner Sicht zu erklären. "Ich kann nicht gut schreiben, aber ich habe Ideen." Er sprach von Platons Ideenreich. "Ich fange die Ideen und denke sie weiter, in meinem Kopf." Er schnappte nach einer imaginären Idee und schob sie in seinen Kopf. "Fidel Castro hat gesagt, wenn er zu seinem Volk spricht...dann redet er mit seinem Herzen. Später wusste er selber nicht mehr genau, wie er auf diese Sachen gekommen ist. So ist es bei mir auch. Ich rede und es kommen diese ganzen Gedanken. Ich rede vom Herzen!"

Er lachte über sich und legte dabei seine Hände auf seinen etwas runderen Bauch. Sehr sympathisch, er wirkte sehr zufrieden und glücklich. "Schade, dass sie kein indonesisch können. Sonst könnt ich ihnen viel mehr sagen." Mister Miyagi holte ein Diktiergerät aus seiner Armlehne. "Sehen sie, ich kann reden, aber nicht schreiben. Manchmal rede ich etwas, weil es mir einfällt auf mein Diktiergerät. Oder ich rede mit einem indonesischen Professor. Hören sie?" Das Band spielte, doch war es indonesisch und ich verstand kein Wort. Es klang trotzdem schön...irgendwie spanisch. "Ich rede mit ihm und wir tauschen unsere Gedanken aus. Er möchte das auch alles für mich aufschreiben. Ich hab schon viele Kassetten besprochen, über 200." Unter seinem Sitz kramte er eine Schachtel mit Kassetten hervor. "Hier ist schon Nr. 212. Vielleicht wird das alles, später wenn ich nicht mehr da bin, eine bessere Menschheit fördern. Die werde ich nicht erleben, aber ich wäre eine Art Legende. Das wäre schön." Sein Blick schweifte kurz ab. Vermutlich träumte er grad von der Zukunft, einer besseren Zukunft, die auch ihm mitzuverdanken ist.

"Die Menschen sind eigentlich eine Person. Es gibt nur einen Menschen...der Rest sind Spiegelbilder. Wenn also einer lächelt, lächelt der andere zurück. Ich möchte, dass alle Spiegelbilder lächeln." "Ja, aber manche Spiegelbilder sind wohl kaputt oder trübe." "Genau, das möchte ich ändern...Ich spiele meine Rolle und hoffe so die Menschen zu erreichen. Die Spiegelbilder zu reparieren." Er lachte wieder über sich. Er war so glücklich. Er war so zufrieden mit sich, seinem Leben, seiner Rolle die er in diesem Großen Universum gefunden hatte. Ich war fast neidisch auf ihn. "Ich glaub ich hab meine Rolle noch nicht gefunden." Er schaute mich etwas traurig an. "Sie haben auch eine Rolle."
Seine Ideen schienen nur so zu sprießen, sein Gedanken zu fließen und sein Herz redete. Mir wurde schlecht. Der Alkohol begann sich in meinem Körper abzubauen. Meine Augen brannten wie Hölle. Es war inzwischen fünf Uhr morgens, die Sonne war aufgegangen. Doch Mister Miyagi redete weiter. Ich wollte ihm weiter zuhören, doch ich musste ins Bett, die Vögel zwitscherten bereits. Ich nahm meine Handtasche, holte langsam das Geld heraus und zahlte. Ich hoffte nicht unhöflich zu erscheinen. Doch schlimmer wäre es wohl gewesen, wenn ich im Taxi eingeschlafen wäre.
"Auf wiedersehen, es hat mich sehr gefreut sie kennenzulernen und mit ihnen im Taxi zu fahren." Wir gaben uns die Hand und er lächelte und lachte wieder freundlich, so glücklich. Ich bewunderte ihn dafür. "Auf wiedersehen!" sagte er und ich stieg aus. Gerne hätte ich ihm gesagt, was für ein glücklicher Mensch er doch ist, dass mich sein Worte berührt haben. Vielleicht dass er es geschafft hat in mir ein Stück von sich zu pflanzen. Jedoch schrie jede Faser meines Körpers nach Ruhe. Deshalb schreibe ich nun hier in der Hoffnung, etwas von ihm weiter zu geben – zumindest ein Lächeln.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen