Als ich morgens in den Spiegel schaue, entdecke
ich einen roten Striemen an meinem Hals. Eine kleine Schürfwunde. Woher habe ich
die nur? Was habe ich gestern getan? Ich war arbeiten und dann joggen. Kein
erkennbarer Zusammenhang.
Aber so geht es mir häufiger. Ich wache auf und
habe blaue Flecken. Woher? Keine Ahnung. Oder ich stehe unter der Dusche und
entdecke drei parallel verlaufende Kratzer in meiner Wade. War ich nachts im
Wald? Hab ich da was nicht mitbekommen? Ich weiß zwar woher ich meine Narbe auf
der Stirn habe. Wenn man als kleines Mädchen im Schwimmbad mit der Stirn die
Stufenkante küsst, vergisst man das nicht. Doch die Narbe am Knie oder am Auge
- Herkunft unbekannt.
So ist das wohl, die kleinen Verletzungen an der
Außenhülle vergisst man leicht. Was ist schon ein aufgeschlagenes Knie. Es
wächst Schorf drüber und dann leuchtet die Haut wieder frisch rosa. Sie regeneriert,
sie heilt, ist ein Organ. Doch die anderen Narben, die die man nicht sehen
kann, sind schwerer zu vergessen. Denn sie liegen unter der Haut, im Inneren.
Und dort ist unser Schutz schwächer, die Mauern poröser, die Handwerker sehr
langsam.
Deshalb reicht schon eine Kleinigkeit - ein
Blick, ein Wort, eine Berührung. Das geht bis an die Substanz. Die Verletzung
kann länger nachhallen, als ein simpler Schnitt mit dem Brotmesser. Dass ich
mir mit sechs Jahren fast den Arm gebrochen habe, kenn ich eigentlich nur aus
Erzählungen. Dafür kann ich mich zu gut daran erinnern, wie ich meiner älteren
Schwester helfen wollte, damals im Kindergarten. Die Jungs hatten sie gefesselt
und als sie kurz weg waren lief ich zu ihr, um sie zu befreien - ich hatte ja
Angst um sie. Doch sie blaffte mich an: "Geh weg! Wir spielen!"
Heute lustig, damals überhaupt nicht. Ich hatte Angst, dass sie ihr wehtun. Für
mich war das kein Spiel.
Natürlich kann man sich auch eine stabile innere
Mauer bauen. Doch je stabiler und höher sie ist, umso schwerer ist es, auch das
Gute durch zulassen. Es braucht viel Mühe, um die kleinen Soldaten vor den
schweren Toren zum Öffnen zu überreden. Die Emotionen sind dann tief vergraben
und die Prinzen mit ihren Gäulen kommen da einfach nicht ran. Man wird nicht so
schnell verletzt, aber umso schwerer kann man geliebt werden. Ein
Dilemma!
Ich denke an meine Mauer und an meine Soldaten.
Vielleicht sollte ich denen mal ein wenig Urlaub gönnen. Und wenn die Mauer
nicht jeden Tag nachgebessert wird - nicht so schlimm. Wenn kümmert schon ein
kleines Loch. Dann kommt wenigstens ein wenig warme Sonne rein.
Meine Finger streicheln über den Striemen. Wo zum
Teufel war ich?
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