Mittwoch, 6. November 2013

Es war 1974...

...Helmut Schmidt löste Willy Brandt als Kanzler ab, US-Präsident Richard Nixon tritt wegen der Watergate-Affäre zurück, in Deutschland ist man nun ab 18 Jahren schon volljährig und meine Eltern beschließen, unabhängig voneinander, nach Hamburg zu ziehen. Meine Mutter kam aus dem Saarland, wollte Krankenschwester werden und mein ecuadorianischer Vater - na, der wollte sich einfach mal die WM in Deutschland angucken. "Ich bleib aber nur drei Monate", sagt er. Und nun, fast 40 Jahre, später sitzt er immer noch in meiner Küche und erzählt Geschichten.

Während mein Vater damals noch lernen musste, dass man sich in Deutschland bei einem Streit nicht gleich prügelt, stolzierte meine Mutter mit ihrem Mini-Rock über die Lange Reihe - damals noch der Babystrich - und wunderte sich, warum sie ständig gefragt wurde, was sie koste. Sie war eben die 18-jährige Unschuld vom Lande. Deshalb war sie auch peinlich berührt, als sie herausfand, dass Kasernenpartys eigentlich eher Fleischbeschauungen sind und weniger gediegene Tanzabende. "Mir wurde gesagt, das sind ganz tolle Partys", erklärt sie mir. Deshalb stieg sie mit den anderen Schwesternschülerinnen in den Bus, um direkt zu den Soldaten gekarrt zu werden. Und nein, es war nicht so romantisch wie im Film Pearl Harbor.

Papa lernte deutsch und suchte nach einem Job - als Kellner wäre perfekt. Sein italienischer Kollege, der genauso wenig deutsch sprach und verstand, fand eine super Anzeige in der Zeitung: "Gut bezahlte Servicetätigkeit am Abend, für junge Dynamische. Topless." Was ist topless? Keine Ahnung, aber hey...gut bezahlt. Mein Vater griff zum Hörer und wählte die Nummer. "Ich habe gelesen, sie suchen noch Kellner?", seine Frage. "Ja, das stimmt", sagte der Mann am Telefon: "Aber hast du Titten?" "Hab ich was??" "Na Titten! Topless, oben ohne, für Frauen!" Mein Vater und sein Kollege haben diesen Job nicht bekommen. Dafür wussten sie nun, was topless heißt. Wieder was gelernt.

Einen Job hat mein Vater trotzdem gefunden, genau wie Möglichkeiten mit wenig Geld zu leben: Essen in der Uni-Mensa, Enten auf der Alster fangen, sich mit meiner Mutter eine 18qm Wohnung teilen, zur Hochzeit das weiße T-Shirt von meiner Mama tragen - aber das sind alles andere Geschichten.

Auch als ich schon da war, hatten wir nicht viel, aber ich hatte alles was ich brauchte: Eine Schwester, meine Eltern, eine Familie, ein Etagenbett, ein paar Spielsachen, viel Aufmerksamkeit. Mir hat es an nichts gefehlt. Wer braucht ein Smartphone, eine dicke Karre, ein großes Haus und teures Essen, wenn er eine Familie hat, die einen liebt und fördert, die einen bei dem unterstützt, was man sein möchte, die einen hält wenn man weint? Ich war sehr glücklich in unserer 65qm Wohnung für vier Personen.





1 Kommentar:

  1. einfach das Leben - schön, dass es diese Erfahrungen und die Erkenntnisse daraus noch gibt.
    Eine gute Zeit für dich.

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