Freitag, 26. April 2013

Wer bist du?

"Ich bin deine Nichte, Tia", sage ich. Erst jetzt sehe ich die Erkenntnis in ihrem Blick. Sie steht auf und umarmt mich. "Du bist so hübsch. Ich habe dich gar nicht erkannt. Als Kind sahst du so anders aus. Du bist so hübsch", in ihren Augen schimmern Tränen. Das müsste nicht so sein, denke ich. Du könntest wissen, wie ich aussehe. Was ich jetzt mache, wie es mir geht. Und auch die Tränen könntest du dir sparen.

Ich selber muss meine Tränen zurück halten. Meine Tante hat mich nicht erkannt. Früher hat sie mir so viel bedeutet. Sie und ihre Söhne, meine Cousins, die für mich fast wie meine Brüder waren. Es war laut mit ihnen, egal wo: zu Hause, beim Essen, im Restaurant, am Strand, im Park, beim Tennis spielen, beim Karten spielen, beim Billard spielen, beim Hacky-Sack spielen und besonders, wenn ihr euch nicht einig wart oder die Verlierer von den Gewinnern Arschtritte bekommen haben oder auch, wenn der Verlierer den Gewinner den ganzen Tag auf Knien bedienen musste. Und jeder hatte seinen Spitznamen - so ist das in Ecuador. Jeder bekommt einen Spitznamen: Helmudo Trompudo, Dori Pompori, Chino, Conejo, Flaca - ich bin Leche, weil ich so gerne Milch trinke. Ich war immer die Jüngste, aber auch die glücklichste. Ich war glücklich, wenn ich beim Schwimmen noch drei Münzen hatte und alle anderen keine, ich war glücklich, wenn sich die Tennisspieler auf den Nachbarplätzen beschwerten, weil sich meine Familie lauthals auf spanisch gestritten hat, ob der Ball nun auf der Linie war oder nicht, ich war glücklich, wenn wir auf dem Weg zur Ostsee an die Raststätte ranfuhren und die Töpfe mit Reis, Hühnchen und Empanadas öffneten, als kleiner Wegsnack. 

Das ist vorbei, dieser Teil von mir ist weg. Ich vermisse ihn immer noch. Warum wir nicht mehr mit einander reden weiß ich nicht. Aber seitdem ich dreizehn bin, sind sie weg. Meine Tante hat irgendein Gerücht in die Welt gesetzt und ich habe einen großen Teil von mir verloren. 

Wie sehr mir dieser Teil der Familie fehlt, ist mir erst spät klar geworden. Mein Freunde sind selten leise, selten weiblich, selten angepasst - irgendwie haben alle einen Knall. Sie sind nicht immer lateinamerikanisch, aber können doch gut mithalten: Da gibt es den Zwiebeljungen, die Katze, die einarmige Banditin (momentan), Grille (wie mein Vater so schön sagt)... Meine Freunde sind meine Familie.

Dennoch - manchmal vermisse ich die Anderen sehr. Ich will meine Jungs zurück, die schöne Zeit, die gemeinsamen Vergnügen, diese intensive Nähe, das Gefühl: Wir sind eine Familie, wir lieben und wir streiten, aber wir bleiben zusammen. Ersetzen kann diesen Teil nie jemand ganz, aber welcher Mensch ist schon austauschbar? Das würde ich meiner Tante gerne sagen: Warum habt ihr mich verlassen? Warum habt ihr nicht ab und zu nach mir geschaut? Ich hab euch so vermisst!

"Mir geht es gut", sage ich: "Ich muss aussteigen, bin auf dem Weg zur Arbeit. Grüß aber schön die Anderen von mir." Ich steige aus. Es wird nie wieder so sein wie früher, so sehr ich es mir auch wünsche.



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