Sonntag, 2. Juni 2013

Du, Sie, Herr Busfahrer?

Es gibt Dinge, die ich noch nie konnte. Ein Seil hochklettern, einen Klimmzug machen, schnell Kopfrechnen oder im Bus ein Buch lesen. Alles Dinge, die ich jetzt auch nicht zwingend erlernen müsste - wobei ein Seil hochklettern mir vielleicht mal das Leben retten könnte. Um mich im Bus aber nicht zu langweilen, ist es durchaus nicht nötig, dort lesen zu können.

Es reichen die Fähigkeit zu sehen und zu hören - manchmal auch zu riechen. Wenn morgens etwa ein ungewaschener, anonymer Alkoholiker neben dir sitzt. Dann ist man die ganze Fahrt über damit beschäftigt, nicht durch die Nase zu atmen. Ablenken kann dann etwa das Grüppchen von Menschen, das gerade einsteigen will. Der Busfahrer ist zu langsam und die Türen öffnen sich nicht. Wie die Strauße recken sie die Köpfe in Richtung Fahrer. Alle Gesichter mit einem Blick, zwischen Ratlosigkeit und Empörung . Warum macht er nicht auf? Sieht er nicht, dass wir einsteigen wollen? Wie unverschämt, uns hier warten zu lassen. Ist er da vorne am Träumen? Ah, jetzt geht sie endlich auf. 

Ähnliches ist auch zu beobachten, wenn ausgestiegen wird - besonders in den langen Gelenkbussen, bei denen die hintere Tür nur auf Knopfdruck des Fahrgastes öffnet. Da hat der Fahrer kaum Aktien drin. Eigentlich allgemein bekannt, aber es gibt immer noch den ein oder anderen, der diese Tatsache gerne vergisst. "Hallo, Hallo! Da machen Sie doch die Tür auf. Ich will hier raus" ruft dann der bebrillte, ältere Mann. Seinen Jutebeutel hält er verkrampft in der Hand, seine Stimme ist leicht panisch. Er läuft er immer wieder zur Tür und zurück ins Sichtfeld des Fahrers. Irgendwann erbarmt sich dann meist ein anderer Fahrgast und drückt für den Verwirrten den Knopf, damit sich die Tür öffnet. 

Doch nicht nur an den Türen herrscht reges Treiben. Das Innenleben hat einiges zu bieten. Die Rollstuhlfahrerin, die ungehemmt jedem über die Füße fährt, der nicht schnell genug Platz macht. Selber schuld, wenn sie auch dort stehen, wo normalerweise die Rollstühle parken sollen. Oder die schlafende Familie - Papa, Tochter, Sohn. Die beiden Freunde die sich unterhalten, obwohl sie drei Reihen auseinander sitzen. Die Betrunkene, die während der Fahrt einfach den Fahrer anspricht: "Du, Sie, Herr Busfahrer?" Die Grundschulklasse auf ihrem Ausflug. Du willst zu einem freien Platz, doch plötzlich stehst du in einer Gruppe schnatternder, aufgeregter kleiner Menschen.

Was sich jeder von den Fahrgästen wohl denken mag? Wohin sie alle wollen, woher sie kommen? Im Grunde tun wir gerade alle dasselbe - Bus fahren. Doch wir machen auch alle etwas Anderes. Sie liest ein Buch, er telefoniert, er surft mit seinem Smartphone, die beiden unterhalten sich und sie starrt aus dem Fenster. So viele Menschen, so viele Gedanken, keiner gleich. Und doch sitzen wir hier, alle gemeinsam, sitzen hier und sind Kopfnicker, im Takt der Stotterbremse des Busfahrers.


3 Kommentare:

  1. Danke fuer die gelungene Beschreibung und die Erinnerung an eine aussterbende Spezies, die liest.

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  2. Bücher lesen stirbt nicht aus. Wenn ich es im Bus könnte, würde ich es tun. ;)

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  3. Toll! Ich freue mich schon auf deinen nächsten Blogeintrag.

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