Sonntag, 26. Mai 2013

Bis an die Substanz

Als ich morgens in den Spiegel schaue, entdecke ich einen roten Striemen an meinem Hals. Eine kleine Schürfwunde. Woher habe ich die nur? Was habe ich gestern getan? Ich war arbeiten und dann joggen. Kein erkennbarer Zusammenhang. 

Aber so geht es mir häufiger. Ich wache auf und habe blaue Flecken. Woher? Keine Ahnung. Oder ich stehe unter der Dusche und entdecke drei parallel verlaufende Kratzer in meiner Wade. War ich nachts im Wald? Hab ich da was nicht mitbekommen? Ich weiß zwar woher ich meine Narbe auf der Stirn habe. Wenn man als kleines Mädchen im Schwimmbad mit der Stirn die Stufenkante küsst, vergisst man das nicht. Doch die Narbe am Knie oder am Auge - Herkunft unbekannt.

So ist das wohl, die kleinen Verletzungen an der Außenhülle vergisst man leicht. Was ist schon ein aufgeschlagenes Knie. Es wächst Schorf drüber und dann leuchtet die Haut wieder frisch rosa. Sie regeneriert, sie heilt, ist ein Organ. Doch die anderen Narben, die die man nicht sehen kann, sind schwerer zu vergessen. Denn sie liegen unter der Haut, im Inneren. Und dort ist unser Schutz schwächer, die Mauern poröser, die Handwerker sehr langsam.

Deshalb reicht schon eine Kleinigkeit - ein Blick, ein Wort, eine Berührung. Das geht bis an die Substanz. Die Verletzung kann länger nachhallen, als ein simpler Schnitt mit dem Brotmesser. Dass ich mir mit sechs Jahren fast den Arm gebrochen habe, kenn ich eigentlich nur aus Erzählungen. Dafür kann ich mich zu gut daran erinnern, wie ich meiner älteren Schwester helfen wollte, damals im Kindergarten. Die Jungs hatten sie gefesselt und als sie kurz weg waren lief ich zu ihr, um sie zu befreien - ich hatte ja Angst um sie. Doch sie blaffte mich an:  "Geh weg! Wir spielen!" Heute lustig, damals überhaupt nicht. Ich hatte Angst, dass sie ihr wehtun. Für mich war das kein Spiel.

Natürlich kann man sich auch eine stabile innere Mauer bauen. Doch je stabiler und höher sie ist, umso schwerer ist es, auch das Gute durch zulassen. Es braucht viel Mühe, um die kleinen Soldaten vor den schweren Toren zum Öffnen zu überreden. Die Emotionen sind dann tief vergraben und die Prinzen mit ihren Gäulen kommen da einfach nicht ran. Man wird nicht so schnell verletzt, aber umso schwerer kann man geliebt werden. Ein Dilemma! 

Ich denke an meine Mauer und an meine Soldaten. Vielleicht sollte ich denen mal ein wenig Urlaub gönnen. Und wenn die Mauer nicht jeden Tag nachgebessert wird - nicht so schlimm. Wenn kümmert schon ein kleines Loch. Dann kommt wenigstens ein wenig warme Sonne rein.

Meine Finger streicheln über den Striemen. Wo zum Teufel war ich?

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